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von Norbert Neumann
veröffentlicht am 12.12.2017

Vom neuen E-Health-Gesetz verspricht sich der Gesundheitsminister endlich den Durchbruch in der Digitalisierung des Gesundheitswesens. Aber bringen die vorgesehenen Maßnahmen Patienten und Leistungserbringer wirklich weiter? Oder ist nicht vielmehr – nachdem bereits seit über zehn Jahren versucht wird, eine Telematikinfrastruktur aufzubauen – ein radikales Umdenken nötig, um das Gesundheitswesen ins digitale Zeitalter zu führen? Dr. Josef Düllings, Sozialwissenschaftler, Krankenhausgeschäftsführer und Vorsitzender des Verbands der Krankenhausdirektoren Deutschlands, sowie Bernhard Calmer, Leiter Business Development Central Europe, freuen sich zwar, dass endlich wieder Bewegung in die Digitalisierungsbestrebungen kommt, hegen aber dennoch eine gewisse Skepsis in Hinblick auf den eingeschlagenen Weg und stellen Alternativen vor.

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Die deutsche Bundesregierung macht Ernst: Mit dem E-Health-Gesetz soll endlich der Durchbruch zumindest zu einer einheitlichen Telematikinfrastruktur und neuen Funktionen auf der elektronischen Gesundheitskarte geschafft werden. Finanzielle Anreize – z. B. bei der elektronischen Übermittlung von Röntgenaufnahmen – sollen dafür sorgen, dass sich das deutsche Gesundheitswesen bei seiner Reise in die Digitalisierung nicht mehr durch raues Gelände kämpfen muss, sondern endlich auf geebneten Wegen Fahrt aufnimmt.

Bringt das E-Health-Gesetz den ersehnten Durchbruch?

Manch ein erschöpfter Wanderer in der Politik mag erleichtert aufgeatmet haben, als das Gesetz verabschiedet wurde. Es ist sicher mehr, als viele erwartet hatten. Aber ist es auch genug? Eine nicht unerhebliche Anzahl von Mitreisenden hegt daran Zweifel. Einer davon ist Dr. Josef Düllings. Der studierte Sozialwissenschaftler ist Präsident des Verbands der Krankenhausdirektoren Deutschlands (VKD) und Hauptgeschäftsführer der Krankenhäuser St. Vincenz Krankenhaus Paderborn und St. Josefs- Krankenhaus Salzkotten. Er steht der Herangehensweise der Bundesregierung eher skeptisch gegenüber: „Man muss sich fragen: Was ist angesichts der enormen bisherigen Investitionskosten in die elektronische Gesundheitskarte (eGK) eigentlich bislang bei den Patienten oder Leistungserbringern angekommen? So gut wie nichts. Wir haben – verglichen mit anderen Bereichen – im Gesundheitswesen seit Jahren fast Stillstand bei der Digitalisierung. Notwendige, konstruktive Diskussionen werden nicht geführt. Dabei ist das dringend nötig.“ Denn die berechtigte Frage ist: Taugt das E-Health-Gesetz wirklich zu einem Durchbruch? Oder sind wir in Deutschland von der Wirklichkeit schon längst überholt worden und versuchen die Zukunft mit der Vergangenheit zu gestalten?

Zumindest im Gesundheitsministerium (BMG) scheint man guter Dinge zu sein: Auf der Website des Ministeriums¹ verkündet Minister Gröhe, dass mit dem durch das Gesetz vorangetriebenen Fortschritt sowohl die Gesundheitsversorgung als auch die Selbstbestimmung des Patienten gestärkt werden. In der Folge werden die Schwerpunkte des Gesetzes kurz dargelegt.

Verwaltungs- und Patientendaten – zwei verschiedene Paar Schuhe

Doch gleich der erste Punkt weckt Zweifel, ob es hier wirklich um eine bessere Gesundheitsversorgung und mündige Patienten geht, oder nicht doch eher um eine einfachere Verwaltung. So heißt es auf der BMG- Website: „Ein modernes Stammdatenmanagement (Online- Prüfung und Aktualisierung von Versichertenstammdaten) sorgt für aktuelle Daten in der Arztpraxis und schützt vor Leistungsmissbrauch zu Lasten der Beitragszahler. Diese erste Online-Anwendung der elektronischen Gesundheitskarte soll nach erfolgreichem Probelauf bis Mitte 2018 flächendeckend eingeführt werden. Damit werden zugleich die Online-Strukturen für wichtige medizinische Anwendungen geschaffen.“ Mit anderen Worten: Als erstes freut man sich im Gesundheitsministerium darüber, dass Verwaltungsdaten leichter abgeglichen werden können. Was das mit einer Verbesserung der Gesundheitsversorgung und einer stärkeren Selbstbestimmung der Patienten zu tun hat, bleibt erst einmal offen. Auch der Verweis auf die Schaffung der Online-Strukturen „für wichtige medizinische Anwendungen“ hilft da nicht wirklich weiter. Für die Verwaltungskommunikation zwischen Leistungserbringern und gesetzlichen Krankenkassen existiert schon lange das KV-Safenet. Und es hat sich bewährt. Warum die gematik nach über zehn Jahren immer noch nicht den Durchbruch bei einer vergleichbaren Infrastruktur für den Austausch medizinischer Daten zwischen Leistungserbringern geschafft hat, ist nur schwer nachzuvollziehen. Doch gerade das ist elementar, wenn Diagnostik und Therapie von Patienten durch digitale Anwendungen verbessert werden sollen. Kurz: Der Austausch zwischen Leistungserbringern und Krankenkassen ist bereits reibungslos möglich. Der Datenaustausch medizinischer Daten zwischen Leistungserbringern benötigt aber eigene Spezifikationen, von denen bisher nicht viel zu sehen ist.

Der Schritt zur Standardisierung – zu kurz getreten?

Das sieht man offenbar auch im BMG so, denn etwas weiter unten heißt es: „Um sinnvolle Anwendungen, wie z. B. die Telemedizin in die Fläche zu bringen, muss sichergestellt sein, dass die verschiedenen IT-Systeme auch miteinander kommunizieren können. Die gematik wird daher verpflichtet, bis zum 30. Juni 2017 ein Interoperabilitätsverzeichnis zu erstellen, das die von den verschiedenen IT-Systemen im Gesundheitswesen verwendeten Standards transparent macht. Neue Anwendungen sollen nur noch dann aus den Mitteln der gesetzlichen Krankenversicherung finanziert werden, wenn die im Gesetz vorgesehenen Festlegungen und Empfehlungen der gematik aus dem Interoperabilitätsverzeichnis berücksichtigt werden.“

Bernhard Calmer, beim Healthcare-IT-Hersteller Cerner für Business Development Central Europe zuständig, hegt seine Zweifel, ob das so einfach ist und im vorgegebenen Zeitrahmen umgesetzt werden kann: „Der Ansatz, Systeme unterschiedlicher Hersteller durch fest definierte Standards miteinander kommunikationsfähig zu machen, ist so richtig wie überfällig. Die Industrie hat hier bereits seit Jahren eigenständig vorgearbeitet und Standards und Rahmenbedingungen für den Datenaustausch definiert. Im Hinblick auf den Austausch von Daten wird es sicher möglich sein, den Zeitrahmen zu halten und eine einheitliche Struktur zu definieren. Das alleine bringt aber noch keinen Mehrwert. Zu einer echten elektronischen Kommunikation kann es erst kommen, wenn Daten nicht nur ausgetauscht, sondern auch von den jeweiligen Anwendern und Systemen genutzt werden können. Das heißt: Wenn die Information, die sich hinter den Bits und Bytes verbirgt, auch interpretiert und verknüpft werden kann. Dazu benötigt man aber Terminologiesysteme, die die Informationen verschlagworten und sinnvoll miteinander verknüpfen. Der Bundesverband Gesundheits-IT (bvitg) hat vor einigen Jahren versucht, im Dialog mit verschiedenen Ministerien dieses Thema voranzubringen, indem angeregt wurde, z. B. SNOMED CT – das weltweit führende medizinische Terminologiesystem – zu etablieren. Seitens der Politik gab es damals allerdings kein gesteigertes Interesse daran, weil die Notwendigkeit nicht gesehen wurde. Das fällt uns jetzt auf die Füße.“

Diese Aussage wird indirekt durch den nächsten Punkt auf der BMG-Website zum E-Health-Gesetz gestützt. Dort heißt es: „Medizinische Notfalldaten sollen ab 2018 auf Wunsch des Versicherten auf der elektronischen Gesundheitskarte gespeichert werden. Damit sind wichtige Informationen über bestehende Allergien oder Vorerkrankungen im Ernstfall schnell verfügbar. Immer noch sterben in Deutschland zu viele Menschen an gefährlichen Arzneimittelwechselwirkungen. Deshalb erhalten Menschen, die drei oder mehr Arzneimittel anwenden, ab Oktober 2016 einen Anspruch auf einen Medikationsplan.“ Auch hier stellt sich die Frage: Welchen echten Mehrwert bringt die eGK bzw. die Telematikinfrastruktur dem Patienten? Schon heute „speichern“ viele Menschen Notfalldaten über Allergien o. ä. in Form von Ausweisen in ihrem Geldbeutel. Zugegeben: Die Verfügbarkeit derartiger Informationen auf der eGK würde zumindest in Arztpraxen oder Ambulanzen den Zugriff erleichtern.

Aber ob es dafür extra ein Gesetz und jahrzehntelange hohe Investitionen braucht? Analog mag man für den Medikationsplan argumentieren. Hier greift das, was Bernhard Calmer ausgeführt hat: Ein Mehrwert ergibt sich in diesem Fall nur dann, wenn die Daten aus dem Medikationsplan direkt abgleichbar sind mit einem Medikationssystem im KIS oder einem Praxissystem, sprich: wenn Standards und Terminologiesysteme eine Datenübertragung und -verarbeitung in die und in den Systemen der Leistungsanbieter und damit ein echtes Arbeiten mit den Informationen ermöglichen.

Ist eine zentralisierte Struktur noch zeitgemäß?

Erst die nächsten drei Punkte gehen endlich auf den Austausch von medizinischen Daten zwischen Leistungserbringern ein. Im Vordergrund stehen aber wiederum weder eine verbesserte Gesundheitsversorgung noch mehr Selbstbestimmung der Patienten, sondern der Datenschutz. Dabei fokussiert man sich im BMG auf eine zentrale elektronische Patientenakte: „Um die Ausgabe der Heilberufsausweise zu unterstützen, mit denen Ärzte auf die sensiblen Daten der Gesundheitskarte zugreifen können, werden elektronische Arztbriefe bereits vor Einführung der Telematikinfrastruktur gefördert, wenn hierfür ein elektronischer Heilberufsausweis mit elektronischer Signatur verwendet wird. [...] Mit dem E-Health-Gesetz wird der Einstieg in die elektronische Patientenakte gefördert. Die gematik muss bis Ende 2018 die Voraussetzungen dafür schaffen, dass Daten der Patienten (z. B. Arztbriefe, Notfalldaten, Daten über die Medikation) in einer elektronischen Patientenakte für die Patienten bereitgestellt werden können. Patienten sind dann in der Lage, ihre Behandler über ihre wichtigsten Gesundheitsdaten zu informieren. [...] Patientennutzen und -selbstbestimmung stehen im Mittelpunkt. Der Patient entscheidet nicht nur, welche medizinischen Daten mit der Gesundheitskarte gespeichert werden und wer darauf zugreifen darf. Die Patienten erhalten außerdem einen Anspruch darauf, dass ihre mittels Gesundheitskarte gespeicherten Daten in ihr Patientenfach aufgenommen werden. Im Patientenfach können auch eigene Daten, z. B. ein Patiententagebuch über Blutzuckermessungen oder Daten von Wearables und Fitnessarmbändern, abgelegt werden. Die gematik muss bis Ende 2018 die Voraussetzungen für die Nutzung des Patientenfachs mit der elektronischen Gesundheitskarte schaffen, so dass Patienten ihre Daten auch außerhalb der Arztpraxis eigenständig einsehen können.“

Hier also geht es endlich zumindest ansatzweise um den Nutzen für den Patienten und die geplante Telematikinfrastruktur wird grob umrissen. Die Priorität liegt beim Datenschutz, zunächst werden Arztbriefe, Notfalldaten und Medikationsplan auf der eGK gespeichert und der Patient entscheidet darüber, welche Daten über ihn gespeichert werden und wer darauf zugreifen darf. Immerhin ist definiert, dass auch eigene Daten ihren Weg in die eGK-Infrastruktur finden dürfen. Aber ist das jetzt wirklich der große Wurf? Der Durchbruch, von dem alle träumen?

Dr. Düllings ist eher skeptisch: „Das BMG hängt immer noch an einer zentralisierten Struktur für die elektronische Gesundheitsakte. Dieser Ansatz mag vor 10 oder 15 Jahren sinnvoll gewesen sein, weil damals noch nicht die technischen Voraussetzungen für andere Arten der Infrastruktur existierten. Aber die digitale Welt entwickelt sich. Und sie entwickelt sich schnell. Mit der Einführung des iPhones 2007 hat eine Bewegung begonnen, die heute eine Infrastruktur und Speicherkapazität nutzt, von der man damals nur träumen konnte. Menschen kommunizieren mobil und tauschen große, dezentral gespeicherte Datenmengen aus und in der Gesundheitspolitik diskutiert man über den Aufbau einer eigenen zentralisierten Infrastruktur, während gleichzeitig noch nicht einmal Breitbandanschlüsse flächendeckend verfügbar sind.“

Dr. Josef Düllings
Präsident des Verbands der Krankenhausdirektoren Deutschlands (VKD) und Haupt-geschäftsführer der Krankenhäuser St. Vincenz-Krankenhaus Paderborn und St. Josefs-Krankenhaus Salzkotten

Bernhard Calmer teilt diese Skepsis: „Eine zentralisierte, eigene Infrastruktur für das Gesundheitswesen aufzubauen hat man in Großbritannien schon vor rund zehn Jahren versucht. Damals wurde das Projekt eines IT-Backbone für den NHS ins Leben gerufen – und ist letztlich gescheitert. Und das in einem staatlichen Gesundheitswesen, mit einheitlichen Strukturen und einer zentralen Steuerung. Ich denke, auch aus dieser Erfahrung heraus sollten wir die bisherigen technischen und sozialen Entwicklungen aufgreifen und die persönliche Selbstbestimmtheit mit der technologischen Entwicklung harmonisieren. Die Lösung könnte eine Art zentrale, gesicherte Datenautobahn sein, über die viele Anbieter von Lösungen interoperabel Elemente oder vollständige Akten austauschen können.“

Bernhard Calmer
Leiter Business Development Central Europe bei Cerner

Muss man beim Datenschutz umdenken?

Daran scheint man sich auch im BMG zu erinnern. Denn die Möglichkeiten von Smartphones und der existierenden Infrastruktur werden auch in der Zusammenfassung des E-Health-Gesetzes genannt. Allerdings eher in Zusammenhang mit dem Datenschutz: „Weil immer mehr Menschen Smartphones und andere mobile Endgeräte für Gesundheitsanwendungen nutzen, soll die gematik bis Ende 2016 prüfen, ob die Versicherten solche Geräte etwa zur Wahrnehmung ihrer Zugriffsrechte und für die Kommunikation im Gesundheitswesen einsetzen können.“ Soll heißen: Smartphones als Zugriffspunkte zur Telematikinfrastruktur, mehr aber auch nicht.

Für Dr. Düllings ist das zu kurz gedacht. Er sieht in Smartphones wesentlich mehr als nur mobile Zugriffsgeräte: „Zunächst einmal ist es ein richtiger Ansatz, Smartphones überhaupt mit in die Diskussion um die Infrastrukturen im Gesundheitswesen aufzunehmen. Alleine schon deswegen, weil wir unter den 65- bis 75-Jährigen sehr hohe Zuwachsraten bei der Nutzung dieser Technologie haben und bei den 15-Jährigen in Deutschland schon 99 % ein Smartphone nutzen. Das heißt, es ist nur eine Frage der Zeit, bis Patienten flächendeckend Smartphones besitzen, die sie nutzen können. Was mich allerdings am gesamten Tenor des E-Health-Gesetzes stört, ist, dass der Patient nach wie vor quasi als Bittsteller gesehen wird. Die Daten werden auf der Karte oder in einer zentralen Akte vorgehalten, der Patient darf allenfalls über den Zugriff bestimmen, nicht aber über die Daten selber. Es wird immer viel über den mündigen Patienten geredet: Warum nehmen wir ihn dann nicht endlich ernst und übertragen ihm nicht nur die Verantwortung für seinen physikalischen Körper, sondern eben auch über sein virtuelles Ich in Form seiner Gesundheitsdaten? Zumal diese dann vermutlich vollständiger und umfangreicher wären als bisher.“

Vorhandene Infrastrukturen nutzen, dem Patienten mehr Verantwortung geben

Dr. Düllings plädiert dafür, die vorhandenen Infrastrukturen zu nutzen, um es Patienten zu ermöglichen, ihre Gesundheitsdaten individuell zu speichern: „Medizinische Leistungserbringer hätten die Daten, die sie benötigen und erheben, wie bisher in ihren KIS- oder Praxissystemen. Ein Datenaustausch im Rahmen der Behandlung kann über existierende Netzwerke und Infrastrukturen erfolgen. Gleichzeitig sammelt der Patient seine Gesundheitsdaten und alles, was er für relevant hält, auf seinem Smartphone oder Servern von Anbietern, die diese Daten als Dienstleistung verschlüsselt vorhalten. In den USA ist das schon etabliert und funktioniert sehr gut. Und es gibt auch hier durchaus Anbieter, die vertrauenswürdig und erfahren mit derartigen Dingen sind, wie z. B. Dienstleister für Banken oder Versicherungen. Damit wäre der Patient wirklich Herr seiner Daten.“

Es ist also ein Plädoyer für eine dezentrale Datenhaltung, in der der Patient seine Gesundheitsdaten im Wesentlichen selbst verwaltet. Kann das klappen?

Bernhard Calmer meint: „Ja. Voraussetzung dafür wäre auch hier eine einheitliche Terminologielösung. Es mag etwas penetrant wirken, wenn ich immer wieder darauf hinweise. Aber egal welche Lösung wir letztlich umsetzen: Wenn wir wirklich Mehrwert wollen, führt daran kein Weg vorbei. Ansonsten haben wir eine teure Infrastruktur für einen Datenaustausch, aber ohne Datenverarbeitung und -nutzung.“ Und was ist mit dem Datenschutz? Auch hier pflegt Dr. Düllings eine pragmatische Sichtweise: „Wenn Sie sich mit IT-Fachleuten darüber unterhalten, bekommen Sie übereinstimmend die Aussage, dass kein System unknackbar ist. Insofern ist eine verteilte Datenhaltung sogar sinnvoller als eine zentralisierte. Denn wenn ich in ein System einbreche, das alle Daten enthält, ist der Schaden definitiv größer, als wenn ich nur ein Teilsystem hacke.“

Auch beim Thema Datenschutz bekommt der Vorsitzende des VKD Schützenhilfe von Bernhard Calmer: „Wenn man sich in das Thema IT-Sicherheit im Gesundheitswesen etwas einarbeitet, erkennt man schnell, dass es in der Regel nicht darum geht, dass sich jemand für Oma Maiers Gallensteine interessiert. Kriminellen Hackern geht es darum, Geld zu verdienen. Die Angriffe letztes Jahr mit dem Trojaner ‚Locky‘ auf Kliniken haben das eindrucksvoll gezeigt: Daten wurden verschlüsselt, um die Krankenhäuser zu erpressen. In so einem Szenario ist eine zentrale Datenhaltung wesentlich stärker gefährdet als eine Datenhaltung auf verschiedenen Servern, insbesondere wenn vielleicht noch ein Backup auf dem Smartphone des Patienten existiert. Vor 10 bis 15 Jahren war eine solche dislozierte Infrastruktur noch nicht realistisch. Jetzt ist sie in vielen Bereichen normal. Ganz lässt sich eine Zentralisierung jedoch nicht vermeiden: Krankenhäuser benötigen eine zentrale Datenhaltung, um effizient arbeiten zu können. Aber ich halte es für falsch, Patientendaten in einer großen, zentralen Gesundheitsinfrastruktur zu speichern. Denn damit schafft man nur attraktivere Ziele für kriminelle Hacker.“

Weniger ein technisches als vielmehr ein soziologisches Problem

Warum dann aber das Festhalten an einer (zentralen) elektronischen Patientenakte? Dr. Düllings hat dazu eine Theorie: „Ich denke, es ist weniger ein technisches als vielmehr ein soziologisches Problem. Die Verantwortung für die Patientendaten liegt bisher bei den Leistungserbringern. Diese Ansicht entspringt noch aus der Tradition der papierbasierten Patientenakten, die zentral beim Arzt oder im Krankenhaus gelagert wurden. Aber wir haben seit etwa 200 Jahren einen Trend zur Individualisierung, der der Aufklärung entsprungen ist. Diese Individualisierung beeinflusst auch die Struktur von Institutionen und letztlich auch die Gesetzgebung. Nehmen Sie zum Beispiel die Störerhaftung im Internet, die lange Zeit die Nutzung von privaten WLANs gehemmt hat. Eine technisch sinnvolle Möglichkeit, die einen breiten Zugang zum Internet ermöglicht, wurde durch ein nicht mehr zeitgemäßes Gesetz gehemmt. Letztlich wurde das Gesetz geändert, sodass das Risiko, sein privates WLAN öffentlich zur Verfügung zu stellen und deswegen Probleme zu bekommen, wenn jemand es für illegale Aktivitäten nutzt, deutlich geringer geworden ist. Was wir brauchen, ist ein grundlegendes Umdenken im Gesundheitswesen, das dem gesteigerten Bedürfnis nach Individualität, Freiheit und Selbstbestimmung Rechnung trägt. Das mag etwas verrückt klingen, aber überlegen Sie, wie sich alleine das Arzt-Patienten-Verhältnis – oder das Patienten-Arzt-Verhältnis? – in den letzten 30 bis 40 Jahren geändert hat. Der Arzt ist nicht mehr wie früher Halbgott in Weiß. Und eine ähnliche Entwicklung machen wir auch im IT-Bereich durch. Das wird nur deswegen nicht so deutlich, weil der Bezug zum Patienten nicht so direkt ist. Das Kernproblem ist schlicht, dass wir im deutschen Gesundheitswesen noch viel zu wenig patientenzentriert denken.“

Alter Wein in neuen Schläuchen?

Wird das E-Health-Gesetz also auch nicht den Durchbruch bringen? Dr. Josef Düllings bleibt skeptisch: „Die Idee, die damit umgesetzt werden soll, ist die gleiche wie vor 10 Jahren. Die Beteiligten, die etwas bewegen sollen, sind die gleichen wie vor 10 Jahren. Und wie gesagt: Wir haben seit 10 oder mehr Jahren faktisch Stillstand. Mit dem E-Health-Gesetz werden jetzt endlich die Dinge umgesetzt, die wir damals schon wollten, aber das allein reicht heute nicht mehr. Was wir brauchen, ist ein Vorausdenken und grundlegendes Umdenken. Sehen Sie sich das Gesundheitswesen in Deutschland doch an: Von den Krankenhäusern sind nur etwa 25 % teilweise und 10 % voll digitalisiert. Die Investitionsquote in Krankenhäusern wiederum ist von etwa 9 % in den 1990er Jahren auf aktuell 3 % gefallen. Und das gilt ja nicht nur für IT, sondern auch für Gebäude, Geräte und so weiter. Ich gehe davon aus, dass pro Jahr allein für die Krankenhäuser zusammen etwa 1,5 Mrd. Euro in IT investiert werden müssten, damit sich etwas ändert. Aber davon ist eben nicht die Rede, das wird nicht diskutiert. Und deswegen glaube ich auch nicht, dass das E-Health- Gesetz uns wesentlich weiterbringen wird. Zumal die Ansätze, wie ausgeführt, auch nicht mehr der gesellschaftlichen und technischen Realität entsprechen und zu wenig auf den Patienten abzielen, sondern mehr auf reine Datenverwaltung.“ Die nächsten Jahre werden zeigen, ob das E-Health-Gesetz wirklich einen Durchbruch in der Digitalisierung des Gesundheitswesens bringt und ob echter Mehrwert für die Patienten generiert werden kann. Fest steht aber, dass ohne größere Investitionen und grundlegende Regelunge im Hinblick auf Kompatibilität und Terminologie wohl eher weiter Stillstand herrschen wird. Allerdings hat das E-Health-Gesetz schon jetzt eines erreicht: In die fachliche Diskussion ist wieder mehr Leben gekommen.


Foto: © Pebe Sport

Der Artikel erschien erstmals im April 2017 im Cerner Kundenmagazin „Gesundheit im Wandel“


¹http://www.bundesgesundheitsministerium.de/ministerium/meldungen/2015/ e-health.html, Stand Februar 2017