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von Norbert Neumann
veröffentlicht am 12.09.2016

Sicher kennen Sie das: Man trifft neue Leute. Im Verein, im Café, am Bahnhof. Man kommt ins Gespräch, findet sich sympathisch und irgendwann kommt die Frage auf: „Was machen Sie eigentlich beruflich?“

Wenn ich diese Frage beantworte, ist die allgemeine Reaktion darauf in etwa so überraschend wie die regelmäßige Wiederkehr des Weihnachtsfests. „Also eigentlich bin ich Arzt.“ Das Gegenüber nickt erfreut. Ein Akademiker also. Noch dazu ein Mediziner. Diesen Beruf kennt man. Ich sehe direkt, wie hinter der Stirn meines Gegenübers ein Bild entsteht: Ein Mann im weißen Kittel mit Stethoskop in der Hand, der sich um sieche Menschen kümmert (alternativ vielleicht auch: Ein Mann, der im Porsche auf den Golfplatz fährt, um eine Runde Bälle zu schlagen. Allerdings zerschlägt sich diese Vorstellung spätestens, wenn mein Gegenüber meinen italienischen Kleinwagen sieht, der nach einer Bärenart benannt ist).

„Und wo arbeiten Sie dann?“ Zur Verfeinerung des Bildes ist es natürlich nötig, die Arbeitsumgebung genauer einordnen zu können. Hetze ich gestresst durch die Notaufnahme, während ich heroisch Leben rette? Oder bin ich eher der bullernde Landarzt, der Oma Maier zuhört, die sich ihren Kummer vom Herzen redet (oder bin ich der blendend aussehende Chefarzt, der mal eben mit seinem Kleinwagen auf den Golfplatz fährt….). „Ich bin bei einem IT-Unternehmen. Wir stellen Software her: Krankenhausinformationssysteme. Also Programme, mit denen man Patientendaten verwalten kann, Befunde dokumentieren, Abläufe organisieren und so…“

Spätestens jetzt ernte ich einen völlig verständnislosen Blick. Man glaubt förmlich, das Geräusch zu hören, das ein Tonarm erzeugt, der quer über eine Schallplatte gezogen wird. Die Bilder im Kopf meines Gegenübers kollabieren und Konfusion macht sich in seinem Gesicht breit. Und dann entringt sich dieser Satz aus seinem Mund, auf den ich schon lächelnd warte: „Aber….Sie sind doch Arzt??“

Zu allen Klischeebildern, die es gemeinhin zu medizinischem Personal – ob Krankenpfleger oder Arzt – gibt: Dass es eine erkleckliche Anzahl an Menschen mit medizinischer Ausbildung gibt, die in der medizintechnischen Industrie arbeiten, ist der blinde Fleck im geistigen Fotoalbum vieler Menschen. Und ich gestehe: Selbst mir, der ich seit fast genau zehn Jahren in der Industrie arbeite, fällt es manchmal noch schwer, meinen erlernten Beruf mit meiner aktuellen Tätigkeit fernab von Patienten auf einen Nenner zu bringen. Ärzte helfen Menschen. Wie kann man sich als Arzt dann mit summenden Computern umgeben?

Mein erstes prägendes Erlebnis hatte ich als Assistenzarzt im Krankenhaus. Ich arbeitete damals auf einer chirurgischen Abteilung. Die Pflicht zur Kodierung mit ICD und OPS war gerade über uns hereingebrochen. Der nagelneue Computer in unserem Arztzimmer wurde im Wesentlichen als Schreibmaschine oder Nachschlagewerk genutzt. Kugelschreiber und Papier waren unsere einzigen Mittel für die Dokumentation. Ich hatte bei der Entfernung einer Exostose (einer gutartigen Wucherung des Knochens) der Großzehe eines Patienten assistiert und musste nun die Diagnose und den Eingriff kodieren. So saß ich also vor unserem Rechner und gab in das (damals noch sehr rudimentäre) Suchprogramm „Exostose“ ein. Erster Lerneffekt: Exostosen gibt es nur im äußeren Gehörgang. Also nächster Versuch mit anderen Suchworten. Nach einer guten halben Stunde hatte ich dann endlich den richtigen ICD-Kode: „Gutartige Neubildung der kurzen Knochen der unteren Extremität“. Obwohl es schon rund 20 Jahre her ist, weiß ich das noch heute. Für den dazugehörigen OPS-Kode habe ich dann nochmal eine Viertelstunde gebraucht….

Wenige Jahre später, mittlerweile war das DRG-System gebräuchlich und die IT hatte sich enorm weiterentwickelt, wäre mir das nicht mehr passiert: Semantische Netzwerke waren jetzt gebräuchlich und lieferten selbst auf die ungewöhnlichsten Suchworte passende Ergebnisse. Und auch Kugelschreiber und Papier bekamen langsam Konkurrenz: Durch Krankenhausinformationssysteme, in denen zunächst nur Diagnosen und einige wenige zusätzliche Informationen für die Verwaltung abgelegt wurden.

Aber es war für mich als jungen Mediziner klar, dass diese Systeme die Zukunft darstellen würden. An einem meiner Arbeitsplätze bekam ich eine Ausbildung zum Systemadministrator, weil ein Telemedizinarbeitsplatz eingerichtet werden sollte. Telemedizin! Diagnostik und Therapie über viele Kilometer hinweg! Irgendwann würden Patienten in den entlegensten Ecken der Erde Zugriff zu ärztlichem Rat haben. Wo IT vielen älteren Kollegen als lästige Spielerei der Verwaltung galt, mit der zu beschäftigen reine Zeitverschwendung war, sahen viele junge Ärzte wie ich auch die Möglichkeiten, die EDV zukünftig eröffnen würde: Organisation von Arbeitsabläufen, einfachere, lesbare Dokumentation, schneller Zugriff und einfacher Austausch von Informationen über weite Strecken.

Als sich mir dann wieder einige Jahre später die Möglichkeit bot, in der Healthcare-IT-Industrie zu arbeiten, griff ich ohne zu zögern zu. Denn mir war bewusst geworden, dass nicht nur technischer, sondern auch medizinischer Sachverstand benötigt werden, um Software-Lösungen für medizinische Leistungserbringer zu entwickeln und zu vertreiben. Was für einen Informatiker eine ausgeklügelte, elegante Lösung ist, stellt für den Praktiker in der Klinik unter Umständen schlicht ein unhandliches, realitätsfernes Ärgernis dar. Wenn beide Berufsgruppen ihren jeweiligen Sachverstand zusammentun, kommen aber Lösungen heraus, die den Kolleginnen und Kollegen in der Patientenversorgung bei ihrer Arbeit helfen und damit letztlich auch den Patienten nützen.

Nehmen wir zum Beispiel Medikationssysteme: War es für unerfahrene Assistenten früher eine fehlerbehaftete Fleißarbeit, eine bestehende Medikation vom Hausarzt auf die im Krankenhaus gängigen Medikamente umzustellen, unterstützen heutzutage elektronische Systeme, die auch vor seltenen unerwünschten Wirkungen warnen. Was für den Assistenten eine Arbeitserleichterung ist, ist für den Patienten ein großes Stück mehr Sicherheit. Wann immer ich also Zweifel habe, ob ich wirklich an der richtigen Stelle bin, führe ich mir diese Zusammenhänge vor Augen. Ein Arzt kann Patienten auch helfen, wenn er nicht direkt mit ihnen zu tun hat.

Und deswegen lächle ich freundlich, wenn mein Gegenüber mit konfusem Gesichtsausdruck ein: „Aber Sie sind doch Arzt..??“ stammelt und entgegne einfach nur: „Ja. Eben drum.“

Norbert Neumann hat Humanmedizin in Köln und Erlangen studiert und war Sanitätsoffizier bei der Bundeswehr. Nach einem knapp zweijährigen Intermezzo als Medizincontroller wechselte er vor rund zehn Jahren in die IT-Industrie.