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von Norbert Neumann
veröffentlicht am 20.12.2017

Eine digitale Reise durch Vergangenheit und Zukunft des Gesundheitswesens

Als Healthcare-IT-Anbieter wollen wir Krankenhausbetreiber motivieren, die Digitalisierung des eigenen Hauses anzupacken. Was das mit Zeitmaschinen zu tun hat, lesen Sie in nachfolgendem Artikel, welcher im April 2017 in unserem Kundenmagazin „GesundheIT in Wandel“ erschienen ist.

Lesedauer des gesamten zweiten Beitrags ca. 9 Minuten. Lieber später in Ruhe lesen? Laden Sie HIER die PDF-Version herunter.


Deutschland im Jahr 2017: Viele Krankenhausgeschäftsführer kämpfen mit Personalknappheit, Investitionsstau und ständigem Kostendruck. Gleichzeitig sollen sie dafür sorgen, dass einer beständig älter und multimorbider werdenden Bevölkerung eine qualitativ hochwertige Versorgung zugutekommt – auch und gerade in der Fläche ländlicher Gebiete.

Auch wenn in vielen Details Uneinigkeit zwischen den Interessengruppen im Gesundheitswesen herrscht, sind sich doch alle einig, dass die Digitalisierung einen wichtigen Beitrag zur Lösung vieler Probleme im Gesundheitswesen leisten kann. Sieht man sich in der Krankenhauslandschaft um, bietet sich allerdings ein buntes Bild: Während die einen bereits mit der elektronischen Patientenakte unterwegs sind, nutzen viele andere noch zumindest teilweise die Papierdokumentation und ärgern sich mit den daraus resultierenden Medienbrüchen herum. Doch was führte zu dieser Situation? Und vor allem: Wie können wir sie ändern? Müssen wir einen Weg finden, die Vergangenheit zu beeinflussen, oder ist es möglich, im Hier und Heute Schritte zu unternehmen, um nachhaltige Lösungen zu finden?

Steigen wir in unseren DeLorean, füllen eine Ladung Energie ein und werfen wir die Zeitmaschine an für eine Reise in die Vergangenheit.

Gemeinsam auf digitaler Reise

Die Anfänge der Digitalisierung im Gesundheitswesen reichen knapp ein halbes Jahrhundert weit zurück. Anfänglich wurden IT-Systeme im Wesentlichen für Verwaltungsaufgaben genutzt, was auch die Architektur älterer Systeme erklärt: Sie sind abrechnungs- und fallbezogen aufgebaut, weil zum damaligen Zeitpunkt eine Nutzung im klinischen Bereich noch nicht absehbar war. Vom heutigen Standpunkt aus war dieser Ansatz – der sich teilweise immer noch durch die Architektur von KIS-Systemen zieht – unglücklich gewählt. Denn in der Regel ist vom Versorgungsstandpunkt aus ein übergreifender Patientenbezug wünschenswert, der sich nicht auf einzelne Behandlungsfälle limitiert. Ein Zeitreisender hätte hier vielleicht schon einen grundlegend anderen Ansatz vermitteln können.

So änderte sich die fallbezogene Sichtweise erst ab Mitte der 1980er Jahre mit der Einführung von Kodiersystemen wie ICD und OPS. Klinische Arbeitsplatzsysteme wurden eingeführt und Computer eroberten nach den Verwaltungsbauten auch die Stationen und Funktionsabteilungen der Krankenhäuser. Die ersten Anwendungen dieser Art waren elektronische Dokumentationslösungen, die allerdings noch einen starken Abrechnungsbezug hatten. Von einer einheitlichen IT-Infrastruktur war man weit entfernt, da auch einheitliche technische Standards noch fehlten. Im Laufe weniger Jahre lösten durchgängige klinische Dokumentationssysteme, die auf mittlerweile entwickelten technischen Systemstandards basierten, die oft von den Krankenhäusern selbst programmierten Insellösungen ab.

Vernetzung und verbesserter Zugriff auf Daten

Mit der rasanten Weiterentwicklung der Computertechnologie in den 1990er und frühen 2000er Jahren wurden die KIS-Systeme immer leistungsfähiger. Es war nicht nur möglich, immer mehr Daten zu speichern und zu verarbeiten. Vielmehr wurden IT-Systeme auch dazu genutzt, Abläufe zu verbessern und zu koordinieren, indem eine Workflowunterstützung in den Systemen verfügbar gemacht wurde. Damit konnten komplexe Vorgänge, von der OP-Vorbereitung bis hin zu einer weitgehend standardisierten Behandlung von Routinefällen, einfacher vom Personal gehandhabt werden. Denn langsam zeichnete sich auch der beginnende Personalmangel in Krankenhäusern ab. Mit IT-unterstützten Workflows konnten Abläufe effizienter gesteuert und so mit weniger Arbeitsaufwand eine bessere Auslastung der Ressourcen erreicht werden.

Das allerdings erforderte entweder neu entwickelte KIS-Systeme mit modern designten Systemarchitekturen oder einen Umbau bestehender Lösungen auf eine neue, moderne Architektur. Manch ein etabliertes System überlebte diese Entwicklung nicht. Aber insgesamt markierte diese Phase einen ersten Durchbruch, der neue Möglichkeiten in der Datenverarbeitung und Kommunikation im Gesundheitswesen schuf – auch ohne Eingriff von Zeitreisenden.

Ein zweiter Schwerpunkt war die Vernetzung: anfangs noch in Form eines Datenaustauschs zwischen fest installierten Rechnern in Stations- oder Arztzimmern, später auch im Sinne von mobilen Lösungen, die einen Zugriff auf Patientendaten von nahezu jedem Punkt des Krankenhauses ermöglichten. Hier begann allerdings eine unheilvolle Entwicklung, die wohl als mit ursächlich für die heutige Situation im deutschen Gesundheitswesen gelten darf: Obwohl die klinischen IT-Anwendungen mittlerweile eine komplett vernetzte elektronische Dokumentation erlaubten, um in Kombination mit Workflowunterstützung und mobilem Datenzugriff eine durchgängige IT-Unterstützung – auch über Versorgungsgrenzen hinaus – zu ermöglichen, setzte sich die elektronische Patientenakte als Grundlage dafür nicht flächendeckend in den Krankenhäusern durch. Vor allem der allgegenwärtige Mangel an Investitionsmitteln und Personalressourcen im IT- Bereich begann sich in immer mehr Kliniken bemerkbar zu machen. Und auch bei der Vernetzung geriet die Entwicklung ins Stocken: Ein ehrgeiziges Telematikinfrastruktur-Projekt mit elektronischer Gesundheitskarte lief sich fest. Während Nachbarländer wie Österreich – auch gegen Widerstände von Interessengruppen – bereits gut funktionierende Systeme aus miteinander vernetzten Krankenhäusern aufweisen können und den Ausbau der Infrastruktur zügig vorantreiben, sind deutsche Leistungserbringer hier auf Eigeninitiative angewiesen.

Damit endet unsere Reise in die Vergangenheit und wir sind wieder in der Gegenwart angekommen. Es liegt auf der Hand, dass wir keine Zeitreisenden benötigen, um die Probleme der Gegenwart zu lösen. Klar ist aber auch, dass es dringend an der Zeit ist, grundlegende Entscheidungen zu treffen und Strukturen zu schaffen, um das Gesundheitswesen in die Zukunft zu führen.

Dazu gehören – lassen Sie uns in der Zwischenzeit noch etwas Energie tanken, denn wir wollen ja noch weiter – vor allem gezielte Investitionen und Organisationen, die Entscheidungen ermöglichen und nicht blockieren. Sowohl ein sparsamer Umgang mit Geldmitteln als auch eine sorgsame Abwägung von Für und Wider des Einsatzes moderner Informationstechnologie haben ihre Berechtigung. Sowohl die Vergangenheit als auch die Gegenwart zeigen, dass der Einsatz von IT im Gesundheitswesen einen enormen Nutzen bringen kann. Die Voraussetzung dafür aber ist eine flächendeckende Digitalisierung, wie sie in Wirtschaftsunternehmen (und ironischerweise auch vielen Krankenkassen) schon längst zum Standard gehört: Nämlich in Form von durchgehend elektronisch vorliegenden, strukturierten Daten und einer breiten Vernetzung. Steigen wir also wieder in unseren DeLorean und rollen wir langsam vorwärts in Richtung Zukunft.

Intelligente Verknüpfung von Daten

Im 21. Jahrhundert ist das Krankenhaus durch mehr Transparenz und Patientensicherheit geprägt. Was als Business Intelligence im administrativen Bereich begann, hat sich zu Anwendungen entwickelt, die klinische Daten analysieren sowie medizinisches Personal bei Auffälligkeiten warnen und bei Entscheidungen unterstützen. Der Punkt, an dem allgemein gehaltene Algorithmen oder Workflows lediglich abgearbeitet werden, ist seitens der IT-Lösungen längst überschritten. Vielmehr werden individuelle klinische Daten wie Vital- und Laborwerte, Allergien oder Begleiterkrankungen mit anerkannten medizinischen Standards verknüpft und so Ärzten und Pflegekräften neue Informationen zur Verfügung gestellt. Erstmals kann mithilfe von IT-Systemen proaktiv gehandelt werden, indem medizinisches Personal vor Medikationsfehlern gewarnt oder auf eine möglicherweise beginnende Sepsis im Frühstadium hingewiesen wird.

Voraussetzung und Grundlage dafür sind eine annähernd flächendeckende elektronische Dokumentation in Form generischer Daten. Das betrifft auch Daten aus Medizingeräten, wie z.B. Überwachungsmonitoren, die dazu an das KIS angebunden werden und über IT-Anwendungen Messwerte in der elektronischen Patientenakte abspeichern.

Mehr Information durch externe Datenquellen

Damit zeichnet sich der nächste Schritt der Entwicklung ab, die wesentlich von IT im Gesundheitswesen getriggert wird: proaktives Handeln, anstatt einfach nur zu reagieren, wenn Erkrankungen schon fortgeschritten sind. Schon lange versuchen Akteure im Gesundheitswesen, in einem breiteren Ansatz prophylaktisch statt überwiegend kurativ tätig werden zu können. Denn die für alle Seiten günstigste Krankheit ist die, die nicht entsteht oder möglichst frühzeitig erkannt wird. Aber wie überall sind auch hier Hindernisse zu überwinden. Abgesehen von rechtlichen Fragen, wie dem Datenschutz, waren es bislang technische Probleme, die eine breitflächige Früherkennung von verschiedenen Erkrankungen oder Risikofaktoren erschwerten. Doch mittlerweile existieren die technischen Voraussetzungen zumindest in der Grundlage: Mobile Sensoren wie z. B. Fitnesstracker, eine Vielzahl an Gesundheits-Apps und die technische IT-Infrastruktur in der Breite geben die nächste Etappe der digitalen Reise vor. Zukünftig werden Gesundheitsdaten nicht nur im Krankenhaus oder der Arztpraxis gewonnen, sondern auch im Fitnessstudio, auf der Joggingstrecke oder im Wohnzimmer zu Hause. Blutdruckwerte werden nicht mehr auf Zetteln zum Arzt getragen und dort in einen Computer eingetippt, sondern von einem vernetzten Messgerät direkt in ein abgesichertes IT-System gesendet. Reha-Patienten absolvieren ihr individuelles Training zu Hause vor ihrem Fernseher, der sie dabei interaktiv führt, die Durchführungsqualität prüft und die erledigten Trainingseinheiten dokumentiert. Chronisch kranke Patienten oder ihre sie pflegenden Angehörigen werden Daten leichter und genauer zur Verfügung stellen können und somit von einer früheren Reaktion ihres behandelnden Arztes profitieren.

Aber auch in den „klassischen“ Bereichen der Leistungserbringer und -träger eröffnen sich neue Ansätze. Schon jetzt wird versucht, die in Deutschland nach wie vor sehr starren Grenzen zwischen ambulanter und stationärer Versorgung aufzuweichen, die ein Relikt aus abrechnungstechnisch orientierten Zeiten sind. Immer mehr setzt sich eine Sichtweise durch, die den Patienten in den Mittelpunkt stellt. Disease-Management-Programme (DMP) für Volkskrankheiten wie Diabetes Mellitus oder Herzerkrankungen existieren zwar schon seit Jahren, kranken aber oft noch an einer fehlenden übergreifenden Infrastruktur. Hier gibt es noch viel Luft nach oben und mithilfe von IT-Lösungen kann schon heute viel erreicht werden – nicht nur in Form schnellerer und sichererer Kommunikation, sondern vor allem auch durch die Analyse vorliegender Daten, die ein erhöhtes Risiko für und eine Häufung von Erkrankungen sichtbar machen. Sowohl Patienten als auch Kostenträger können davon profitieren, wenn Erkrankungen des Einzelnen, aber auch einer Kohorte, schneller erkannt und frühzeitiger behandelt werden können.

Dazu gehört auch, Re-Hospitalisierungen zu vermeiden. Das Verständnis dafür, dass Krankenhäuser und niedergelassene Gesundheitsprofis nicht nebeneinanderher arbeiten, sondern eine therapeutische Einheit bilden, ist zwar da, wird aber durch die bisher in Deutschland vorhandene Infrastruktur kaum unterstützt. Zwar gibt es – ähnlich wie bei den bereits erwähnten DMPs-Insellösungen, in denen eine übergreifende Versorgung erfolgreich durchgeführt wird und Akteure lokal vernetzt sind. Von einer ganzheitlichen Infrastruktur, wie sie in Nachbarländern wie Österreich oder Schweden bereits existiert, ist man in Deutschland allerdings leider noch weit entfernt.

Doch gerade diese vereinzelten Projekte wie beispielsweise das Teleradiologie-Projekt des Unfallkrankenhauses Berlin oder das Schlaganfallnetzwerk NEVAS zeigen, welchen Nutzen eine Vernetzung von IT und eine stringente Kommunikation von Gesundheitsdaten bringen können. Existierende Versorgungsnetzwerke ermöglichen, selbst in entlegenen Gebieten, eine fachlich fundierte und hochwertige Versorgung – selbst, wenn kein erfahrener Facharzt vor Ort ist oder es sich um ein zeitkritisches Ereignis, wie einen Schlaganfall, handelt.

Der Schlüssel zu einer kostengünstigen Versorgung mit geringen Hospitalisierungsraten und niedrigen Wiederaufnahmequoten liegt in einer durchgängig hohen Behandlungsqualität. Um diese sicherstellen zu können, ist es notwendig, Transparenz zu schaffen: durch eine flächendeckende Auswertung von Daten i. S. v. wissenschaftlicher Auswertung, daraus resultierenden Leitlinien und schließlich einer breiten (und nicht wie heute punktuellen) Qualitätssicherung. Letztere bezieht sich dann nicht mehr auf einzelne Behandlungsschritte, sondern betrachtet den Patienten ganzheitlich. IT kann hier wertvolle Dienste leisten: einerseits, indem über sie Daten bereitgestellt und ausgewertet werden, andererseits, indem sie eine leitliniengerechte Diagnostik und Therapie unterstützt und für mehr Transparenz sorgt.

Maschine läuft, es kann losgehen

Zum jetzigen Zeitpunkt eröffnen sich uns im Gesundheitswesen fantastische neue Möglichkeiten. Die Situation ist vielleicht ansatzweise vergleichbar mit der Industriellen Revolution. Unbestritten bergen die neuen technischen Möglichkeiten sowohl Risiken als auch Chancen. Trotzdem ist es an der Zeit, die Möglichkeiten moderner Informationstechnologie zu nutzen, und zu verstehen, dass Diagnostik und Therapie mehr sind als nur die Summe aus einzelnen Prozessschritten. Und dass ein gezieltes Analysieren und Managen von Daten nicht nur für die Therapie, sondern auch für die Prävention von Krankheiten ganz neue Ansätze liefert. Nicht nur für das Individuum, sondern auch für die breite Bevölkerung.

Moderne Healthcare-IT bietet uns endlich die Möglichkeit, Gesundheitsinformationen umfassend zu sammeln, auszuwerten und neue Schlüsse daraus zu ziehen – sowohl auf individueller als auch gemeinschaftlicher Ebene. Es ist eben nicht nur möglich, einen breiteren Zugang zu Informationen zu bekommen, sondern auch, sie unter unterschiedlichsten Aspekten auszuwerten, sie zu managen, neue Erkenntnisse daraus zu gewinnen und entsprechend zu handeln: Sei es, um eine einzelne Person bestmöglich individuell zu behandeln (oder präventiv zu arbeiten), sei es, um aus den Gesundheitsdaten eines Kollektivs – beispielsweise durch Erkennen von regionalen Häufungen – Rückschlüsse auf deren Lebensbedingungen oder Erkrankungsrisiken zu ziehen und gezielt Maßnahmen einzuleiten. Dabei verändert sich der Begriff des „Kollektivs“ von der bislang unbekannten statistischen Masse klinischer Studien auf klar umrissene Gruppen, beispielsweise auf lokaler Ebene, für die das gewonnene Wissen nicht mehr nur eine rein statistische, sondern eine konkret ihre Gesundheit verbessernde Auswirkung haben kann.

Und umgekehrt bietet sich die Möglichkeit, nicht nur neue Informationsquellen, wie z. B. pflegende Familienangehörige, zu erschließen, sondern sie auch gezielter in den Behandlungsprozess oder den Präventionsansatz mit einzubinden, indem sie besser mit Informationen versorgt werden.

So ist es an uns, die wir im Gesundheitswesen tätig sind, dafür zu sorgen, dass die Entwicklung unseres Gesundheitssystems weiter voranschreitet, ohne dass zukünftige Generationen sich gezwungen sehen, Fehlentwicklungen zu verhindern, die wir verursacht haben.


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