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von Norbert Neumann
veröffentlicht am 20.11.2017

Die Standardisierung in der Healthcare-IT muss vorangetrieben werden, um flächendeckend Nutzen zu generieren

Viele Länder innerhalb und außerhalb von Europa machen es vor: Eine übergreifende Infrastruktur im Gesundheitswesen ermöglicht eine wesentlich bessere Vernetzung und Kommunikation. Doch warum hinkt Deutschland hinterher? Eine Ursache dürfte in der mangelnden Umsetzung von Standards zu sehen sein, bei deren Entwicklung Deutschland eine führende Rolle spielt. Doch nicht nur einheitliche Vorgaben und Definitionen sind nötig, sondern auch und vor allem die Beantwortung organisatorischer Fragen durch die Politik.

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Alle Jahre wieder – auch, aber nicht nur zur conhIT – beschwören Gesundheitspolitiker die Wichtigkeit von IT im Gesundheitswesen. Sie sei ein Schlüssel, um die Qualität im Gesundheitswesen zu steigern, Kosten zu senken und die Kommunikation zu verbessern. Und in der Tat: Viele andere europäische Länder zeigen, dass an diesen Aussagen tatsächlich etwas dran ist. Beispielsweise unser Nachbarland Österreich, das in den letzten Jahren die elektronische Gesundheitsakte (ELGA) – auch gegen Widerstände – einführte und eine Infrastruktur integrierte, die nicht nur einen Datenaustausch im Gesundheitswesen vereinfacht, sondern den Bürger auch mit anderen elementaren administrativen Infrastrukturen wie z. B. den Finanzbehörden vernetzt. Wie die Zeitschrift „Gesundheitswirtschaft“ in Ausgabe 5/2016 meldet, konnten alleine in der Steiermärkischen Krankenanstaltengesellschaft (KAGes) mit ihren 15 Krankenhäusern an 23 Standorten in den ersten vier Monaten nach Anbindung an die ELGA 84.000 ärztliche Entlassbriefe, 210.000 Laborbefunde, 65.000 Radiologiebefunde und 11.000 Pflege-Entlassbriefe über diese IT-Infrastruktur verteilt werden.

Fehlende Verbindlichkeit von Standards als Hemmschuh einer flächendeckenden Healthcare-IT

In Deutschland kann man derartige Erfolge leider immer noch nicht verzeichnen. Zwar wurde auch hier eine elektronische Gesundheitskarte eingeführt, von einem flächendeckenden Datenaustausch über eine einheitliche IT-Infrastruktur ist man hierzulande allerdings immer noch weit entfernt. Doch woran liegt das?

Einer der Hauptgründe ist sicher die mangelnde Umsetzung von Standards in der Healthcare-IT. Zwar existieren Standards, Richtlinien und Profile, wie DICOM, HL7, CDA und IHE, aber das alleine reicht nicht aus, erklärt Daniel Hellmuth, der den Healthcare-IT-Hersteller Cerner in seiner Funktion als Business Developer in Standardisierungsgremien vertritt: „Für eine funktionierende Infrastruktur im Gesundheitswesen reichen reine Übertragungsstandards nicht aus. Vielmehr benötigt man unabhängige Organisationsstrukturen, die diese Standards als verbindlich für bestimmte Szenarien definieren, sie einführen und für ihre Umsetzung und Einhaltung sorgen, um Systeme kompatibel zueinander zu machen. Organisationen aus der Wirtschaft können solche Standards zwar entwickeln, aber eben nicht dafür sorgen, dass sie auch regulatorisch verbindlich eingeführt werden.“ Ein Beispiel dafür ist der elektronische Arztbrief: Im Jahr 2006 veröffentlichte der Verband der Hersteller von IT im Gesundheitswesen (VHitG, heute bvitg) den VHitG-Arztbrief. Erstmals wurde anhand eines Use Cases – dem elektronischen Arztbrief – ein einheitlicher Standard für ein elektronisches Dokument gesetzt, das systemübergreifend genutzt werden konnte. Die Richtlinie wurde international von einer Vielzahl an Herstellern dankbar aufgenommen.

Warum Standards und ihre einheitliche Durchsetzung in der Healthcare-IT so wichtig sind, erklärt Daniel Hellmuth mit einem Vergleich: „Nehmen Sie den Begriff ‚Meile‘. Das kann eine Seemeile sein oder eine Landmeile. Und dann ist immer noch die Frage offen, ob es sich um eine britische statute mile oder eine amerikanische survey mile handelt: Denn sie sind unterschiedlich lang. Im Rahmen der Datenübermittlung verknüpfe ich einen Wert mit der Information, dass es sich um eine Distanz handelt, die die Einheit ‚Meile‘ hat. Um wirklich die richtige Information weiterzugeben, benötige ich zusätzliche Informationen, um festzulegen, dass es sich um eine Seemeile handelt. Deswegen benötigen wir neben den reinen Übertragungsstandards wie HL7 auch Terminologien und Profile (wie z. B. IHE), die festlegen, ‚was’ und ‚wie’ in welchem Kontext übertragen wird.“

Grundlage für Kommunikation: einheitliche Rahmenstrukturen und Definitionen

Aus diesem Grund entwickelten Industrievertreter, darunter auch Daniel Hellmuth von Cerner, das 2012 veröffentlichte IHE-Cookbook. In diesem Standard wurden verschiedene Aktenmodelle auf eine gemeinsame Basis gestellt. „Wenn ich von ‚Patientenakte‘ spreche, kann das alles Mögliche sein. Im IHE-Cookbook haben wir festgelegt, dass es eine Patientenakte gibt, die arztgeführt ist und alle medizinischen Daten zu einem bestimmten Patienten enthält. Als zweites gibt es die Fallakte, die ebenfalls arztgeführt ist, aber nur Informationen zu einem bestimmten Behandlungsfall enthält. Und dann gibt es noch die persönliche Patientenakte, über die der Patient die Hoheit hat und in der alle Daten gespeichert werden, die er als relevant für seine Gesundheit erachtet. Durch das IHE-Cookbook sind diese verschiedenen Aktenmodelle jetzt einheitlich definiert. Und erst dadurch wird die Grundlage geschaffen, dass sich verschiedene Systeme unterschiedlicher Hersteller untereinander austauschen können.“

Wichtig zu verstehen ist dabei, dass IHE keinen Standard im eigentlichen Sinne, sondern ein Profil darstellt. Das bedeutet, dass IHE lediglich festlegt, welche vorhandenen Standards für bestimmte Anwendungsfälle genutzt werden. „Es ist eine Rahmenvorgabe, in die bestehende Standards eingegliedert werden. Nehmen Sie zum Beispiel die Ladestecker von Handys. Bis vor einigen Jahren hatte jeder Hersteller eigene Netzteile mit eigenen Steckern, um seine Geräte mit Strom laden zu können. Mittlerweile haben die Hersteller sich darauf geeinigt, nur noch USB-Anschlüsse zu nutzen. Dieser Standard war schon lange in Gebrauch. Neu war nur, dass als Rahmen vorgegeben wurde, dass er zum Laden von Handys genutzt werden soll. So ungefähr funktioniert auch IHE.“

Um möglichst praxisnah zu bleiben und sicherzustellen, dass Systeme auch IHE-konform sind, müssen Hersteller in sogenannten Connectathons zeigen, dass die Lösungen den Vorgaben entsprechen. Auch Cerner nimmt regelmäßig an diesen Veranstaltungen teil. Dabei werden Anwendungsfälle vorgegeben, in denen die zu zertifizierende Anwendung mit IHE konformen Systemen anderer Hersteller kommunizieren muss. Trotzdem bleibt noch viel Spielraum für die Gestaltung: „IHE gibt sogenannte Value Sets vor, damit Systeme auf der Basis einheitlicher Begriffe kommunizieren und notwendige Zusatzinformationen, sogenannte Meta-Daten, erhalten“, erläutert Daniel Hellmuth. „Im Value Set wird die Art eines Dokuments mit einem festen Begriff definiert. Zum Beispiel der VHitG-Arztbrief – egal ob Sie das Dokument in einem IT-System jetzt e-Arztbrief, Arztbrief oder elektronischen Arztbrief nennen: Der Value Set legt fest, dass es sich um diese Art von Dokument mit seinen festgelegten Inhalten handelt. Und er gibt Meta-Daten vor, zum Beispiel, ob es ein PDFa oder PDFa3-Dokument sein muss, welcher Übertragungsstandard genutzt werden soll, in welches Fachgebiet es gehört usw.“

Deutschland ist führend – und hinkt hinterher

Aber warum hinkt Deutschland im Bereich Telematikinfrastruktur dann anderen Ländern in Europa so hinterher? „Die Industrieunternehmen sind in Deutschland tatsächlich seit vielen Jahren sehr aktiv im Bereich der Standardisierung von Healthcare-IT“, erläutert Daniel Hellmuth. „Allerdings fehlen hierzulande noch konkrete Vorgaben zur Umsetzung und die entsprechende Finanzierung. Anders gesagt: Wir haben zwar die Werkzeuge, aber niemand definiert, was wir damit tun müssen. Wir brauchen einen Dialog, dessen Ergebnis dann durch die Politik in Form regulatorischer Vorgaben, basierend auf den Anforderungen der Anwender, umgesetzt wird. Andere Länder, wie eben zum Beispiel Österreich, sind hier schon weiter und haben funktionierende Infrastrukturen geschaffen. Dabei wurden die Ergebnisse unserer Arbeit erfolgreich genutzt.“

Daniel Hellmuth
Business Developer bei Cerner Deutschland

Eigentlich soll die im Jahr 2005 gegründete Gesellschaft für Telematikanwendungen der Gesundheitskarte mbH (gematik) die Grundlagen für eine Telematikinfrastruktur schaffen. Die tatsächlich erreichten Ergebnisse sind allerdings recht überschaubar. Ein Grund dafür, so Kritiker, ist die Zusammensetzung der Gesellschafter: Die gematik setzt sich zu etwa jeweils der Hälfte aus Leistungserbringern (Ärzte und Krankenhäuser) und Vertretern der Krankenkassen zusammen. Andere Interessengruppen, insbesondere Wissenschaft und IT-Hersteller, haben nur eine Beratungsfunktion. Für ein Gremium, das eigentlich technische Lösungen entwickeln und gesetzliche und organisatorische Rahmenbedingungen für eine tragfähige Infrastruktur schaffen soll, eine unglückliche Zusammensetzung. Und in der Tat hemmen anhaltende, heftige politische Diskussionen und die Blockadehaltung einzelner Gesellschaftergruppen die Entwicklung der Telematikinfrastruktur in Deutschland, während andere Länder die auch von deutschen Industrieunternehmen entwickelten Standards nutzen, um eine moderne Kommunikation im Gesundheitswesen aufzubauen.

Schon bei der Anschaffung an den Ausbau denken

Umso wichtiger ist das Engagement der Hersteller, die die Blockade durch Eigeninitiative umgehen wollen. Damit alleine ist es aber nicht getan, wie Daniel Hellmuth kritisch bemerkt: „Die fehlenden Standards können die IT-Hersteller selbst entwickeln. An was es mangelt, sind rechtliche und organisatorische Rahmenbedingungen für eine übergreifende Infrastruktur: Wer hostet sie? Wer finanziert sie? Wer steuert Zugriffsberechtigungen? Wer pflegt die Patientendaten einer nationalen Patientenakte, zum Beispiel bei Namensänderungen oder Zwillingen? Diese Fragen müssen durch die Politik endlich beantwortet werden, während wir als Hersteller an den technischen Voraussetzungen weiter arbeiten.“ Es ist noch viel zu tun: Die Vereinheitlichung durch IHE-Profile ist eine recht neue Entwicklung. Zudem herrscht auch in etablierten Standards wie HL7 noch eine hohe Varianz, bedingt durch unterschiedliche gebräuchliche Versionen. Daniel Hellmuth empfiehlt Krankenhäusern deswegen darauf zu achten, sich Hersteller zu suchen, die möglichst offene Systeme anbieten: „Der Standardisierungsgrad von Schnittstellen spielt bei Ausschreibungen bislang noch keine große Rolle. Das kann sich aber beim weiteren Ausbau eines KIS und einer Anbindung an Infrastrukturen durch höhere Kosten oder den Zwang, an einen bestimmten Hersteller gebunden zu sein, schnell rächen. Bei der Anschaffung eines Healthcare-IT-Systems sollte man auch immer überlegen, wie die Lösung ausgebaut werden kann. Ein Hersteller, der hier nicht nur ein breites Lösungsportfolio bietet, sondern sich auch an Standards orientiert, kann eine bessere Wahl sein als einer, der einen auf eine Eigenentwicklung festlegt. Das ist auch der Grund, warum sich Cerner an der Weiterentwicklung von Standards wie HL7 oder FHIR und Profilen wie IHE aktiv beteiligt und in seinen Lösungen nutzt.“