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gut gemeint gut gemacht

von Norbert Neumann
veröffentlicht am 15.08.2019

PpUGV: Sinnvolle Regelung oder Bürokratiemonster? Die Zusammenarbeit macht den Unterschied.

Gut gemeint war die Pflegepersonaluntergrenzen-Verordnung (PpUGV) auf jeden Fall: Endlich – so die Idee dahinter – sollte sichergestellt sein, dass vor allem in kritischen Bereichen wie der Intensivmedizin, Kardiologie, Unfallchirurgie und Geriatrie zu jedem Zeitpunkt ausreichend qualifiziertes Pflegepersonal vorhanden ist. Ausgeblendet wurde allerdings, dass das Problem weniger der fehlende Wille der Krankenhäuser ist, Pflegepersonal vorzuhalten, als vielmehr ein völlig leergefegter Arbeitsmarkt. Hinzu kam eine sehr kurze Zeitspanne zwischen dem Datum, an dem die PpUGV in Kraft trat (Oktober 2018) und dem Zeitpunkt, zu welchem sie umgesetzt werden sollte (1.1.2019).

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Kaum Zeit für die Umsetzung einer hochkomplexen Materie

War schon die generelle Ausgangslage für Krankenhäuser eher unerfreulich, zeigten sich in der Praxis schnell zusätzliche Probleme, wie Barbara Schmücking, IS-H-Beauftragte an der Gesundheit Nord in Bremen (GeNo), und Tatjana Neitz-Kluge, Abteilungsleitung Administrative Anwendungssysteme im Zentrum für Informationsmanagement an der Medizinischen Hochschule Hannover (MHH), zu berichten wissen: „Von der Idee her ist die PpUGV erst einmal recht eingängig“, fasst Barbara Schmücking zusammen. „Auf jeder betroffenen Abteilung ist seitens des Gesetzgebers und durch die InEK ein bestimmter Personalschlüssel pro Patient für die Tag- und die Nachtschicht definiert. Darin ist vorgegeben, wieviel Pflegepersonal mit welcher Qualifikation anwesend sein muss. In der Praxis gibt es aber eben nicht nur zwei Schichten, sondern mehrere, die sich teilweise überschneiden. Hinzu kommt, dass in vielen Kliniken auch Mischstationen existieren, so dass es auch keine feste Patientenzahl pro Fachabteilung auf einer solchen Station gibt. Gerade im Bereich der Unfallchirurgie kommt es zum Beispiel immer wieder zu nur schwer planbaren Spitzen – zum Beispiel bei Großveranstaltungen. Dann müssen Betten außerhalb der unfallchirurgischen Station flexibel belegt werden.“

Datenstrukturen und gewachsene IT-Infrastrukturen: Nicht für die PpUGV gemacht

Ein weiterer Knackpunkt ist auch die vorhandene IT-Infrastruktur, erklärt Tatjana Neitz-Kluge: „Die Systeme für Personalplanung, Patientenverwaltung und klinische IT sind in der Regel nicht dafür konzipiert, die für die Umsetzung der PpUGV erforderlichen Daten miteinander auszutauschen. Die einzelnen Informationen sind zwar vorhanden, können aber nicht ohne weiteres miteinander verknüpft werden, was insbesondere dann zum Problem wird, wenn es zum Beispiel durch unvorhergesehene Patientenspitzen oder Personalausfälle schnell gehen muss. Natürlich kann man theoretisch im Zweifelsfall Personal von anderen Abteilungen abziehen, aber das würde den Sinn der Verordnung ad absurdum führen und ist auch im Sinne der Patienten inakzeptabel.“

Selbst bei relativ einfach erscheinenden Daten, wie der Zahl der betroffenen Patienten, taten sich Probleme auf: Bislang reicht die sogenannte Mitternachtsstatistik aus, in der die Administrativsysteme die Belegungszahlen zum Datumswechsel zu statistischen Zwecken ausgeben. Im Fall der PpUGV nützt das allerdings wenig, weil der Personalschlüssel jederzeit eingehalten werden muss. Auch die Zuordnung zu den betroffenen Fachbereichen ist in der Regel in IT-Systemen anders hinterlegt, als für die Umsetzung der Verordnung erforderlich. Barbara Schmücking nennt ein Beispiel: „Wir haben bei uns im Personalplanungssystem eine Organisationseinheit ‚Ebene vier‘, die aus drei verschiedenen Stationen besteht. Bislang konnte so das Pflegepersonal für diesen Bereich einfach geplant werden und je nach Bedarf zwischen den Stationen wechseln. Natürlich kann man so etwas in der IT nachziehen, aber bei der kurzen Zeit, die für Planung und Umsetzung blieb, ist ein derartiger Eingriff in die IT-Basis nicht machbar. Zumal beispielsweise für Leiharbeiter wiederum ein anderes System genutzt wird, das ebenfalls angepasst werden muss. Und qualifizierte Leihpflegekräfte sind aufgrund des leeren Arbeitsmarktes unumgänglich.“

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Barbara Schmücking
Gesundheit Nord gGmbH Klinikverbund Bremen

Die Lösung: Zusammen mit Cerner ein Tool entwickeln

Die ohnehin schon komplexen Herausforderungen für GeNo und MHH wurden schließlich noch dadurch verschärft, dass sie zu den Kliniken gehörten, die dem InEK bereits vorab Daten zur weiteren Gestaltung der PpUGV liefern mussten. Denn aus den oben genannten Gründen war es erforderlich, die Daten manuell aus der IT zu extrahieren und zusammenzustellen, was einen erheblichen Aufwand darstellte. 

Nicht zuletzt deshalb sann man in beiden Häusern auf eine einfache Lösung. Die erste Idee, nämlich die Nutzung des SAP Business-Warehouse, wurde schnell wieder verworfen, denn – so Tatjana Neitz-Kluge: „Das hätte eine komplexe Neuentwicklung von Datacubes erfordert, die insbesondere im Bereich Dienstplandaten schwer umzusetzen gewesen wäre, weil hier auf den einzelnen Mitarbeiter heruntergebrochen werden muss. Hier wären wir schnell an die Grenzen des Machbaren gekommen.“ Nachdem klar war, dass im Grunde eine eigene Softwarelösung erforderlich ist, wandten sich beide Häuser an ihren Healthcare-IT-Partner Cerner. „Wir waren alle recht skeptisch, ob das innerhalb des knappen Zeithorizonts klappen würde“, gibt Barbara Schmücking zu und spricht damit auch für ihre Kollegin von der MHH. „Die ersten Gespräche fanden im November 2018 statt und zum Januar 2019 musste schon eine Lösung in den Betrieb gehen. Notabene: Wir reden hier über eine sehr komplexe Struktur, die in IT abgebildet werden sollte und die man auch erst verstehen muss.“ Ein Beispiel dafür liefert Tatjana Neitz-Kluge: „Abgesehen davon, dass es in Krankenhäusern ohnehin nicht nur Tag- und Nachtschicht gibt, sondern mindestens ein Drei-Schicht-System praktiziert wird, haben viele Häuser auch noch Varianten. Bei uns an der MHH ist es zum Beispiel so, dass es noch verschiedene Zwischenschichten gibt, um die Arbeitszeit für Mitarbeiter flexibler gestalten zu können. Das ist zum Beispiel für Alleinerziehende wichtig, die ihre Kinder noch in den Hort oder zur Schule bringen müssen. Ohne solche Arbeitszeitmodelle bekommt man heutzutage auch kein Personal mehr.“ Auch in Details musste die Lösung passgenau entwickelt werden: „Wenn die Pflegekraft in der Nachtschicht Pause macht, kommt es darauf an, ob diese vor oder nach Mitternacht stattfindet. Denn je nachdem wird sie dem Vor- oder dem Folgetag angerechnet. Das muss alles stimmig sein.“ Und auch die Infrastruktur selbst birgt ihre Tücken, insbesondere, wenn sie in Verbundkrankenhäusern wie der GeNo historisch gewachsen ist, wie Barbara Schmücking eindringlich klar macht: „Wir haben in unseren Häusern noch unterschiedliche Zeiterfassungssysteme. Die Lösung musste also nicht nur unterschiedliche Daten zusammenführen und auswerten, sondern auch verschiedene Datenformate und -strukturen harmonisieren.“

Zusammen mit den Fachleuten der MHH und der GeNo entwickelten die Spezialisten in rekordverdächtiger Zeit ein Tool, mit dem die Kliniken arbeiten konnten. Dabei ging es einerseits darum, Inkonsistenzen zu erkennen und ggf. Datenstrukturen zu korrigieren, andererseits um das Sammeln und Auswerten von Informationen aus unterschiedlichen Systemen mit unterschiedlichen Formaten, um eine schnelle Personalplanung im Sinne der PpUGV zu ermöglichen. Barbara Schmücking fasst zusammen: „Das Tool zieht im ersten Schritt Daten aus den Dienstplan- und Patientenadministrativsystemen, strukturiert sie und gleicht sie ab. Der Punkt dabei ist, dass dabei nur wirklich belegte Betten berücksichtigt werden. Prästationäre Patienten, die physisch noch gar nicht da sind, fallen also heraus. Im nächsten Schritt werden die Informationen dann auf das vom InEK vorgegebene System aus Tag- und Nachtschicht umgerechnet und aufgezeigt, ob der Personalschlüssel passt.“ Entscheidend dabei ist auch, dass das Tool dabei auch die Patienten auf den bereits erwähnten Mischstationen berücksichtigt. „Bei den Probeläufen erkannten wir durch das Tool auch recht schnell, wo wir unsere Datenstrukturen noch korrigieren mussten“, fügt Tatjana Neitz-Kluge hinzu. „Wir konnten Inkonsistenzen schnell ausfindig machen und entsprechend korrigieren. Dadurch wurde auch die Datenqualität insgesamt verbessert, was bei derart komplexen Interaktionen sonst recht aufwendig ist.“

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Tatjana Neitz-Kluge
Medizinische Hochschule Hannover (MHH)

Nach kurzer Testphase erfolgreich in den Go Live

Der Go Live des Tools fand – im Gegensatz zu üblichen Gepflogenheiten – recht schnell statt. Nach einer kurzen Testphase wurde die Lösung direkt in Betrieb genommen. Barbara Schmücking erklärt, warum: „Die Prozesse, die in dem Tool abgebildet werden, sind so komplex, dass eine ausführliche Testphase schlicht keinen Sinn gemacht hätte. Stattdessen gestaltete Cerner die Datenflüsse so transparent, dass im Echtbetrieb Plausibilitätsprüfungen und entsprechende Korrekturen möglich waren.“ Teilweise mussten Datensätze mehrfach aufbereitet werden, bis alles passte, aber – so Tatjana Neitz-Kluge: „Dank der guten Planung, der engen Zusammenarbeit zwischen allen Beteiligten und auch der Konzeption des Tools konnten wir damit nicht nur die Datenqualität verbessern, sondern auch fristgerecht unsere Datensätze liefern.“

Mussten die Informationen an das InEK im November noch mühsam manuell zusammengestellt werden, konnten jetzt die Daten in hoher Qualität quasi auf Knopfdruck generiert werden. Gerade die Datenqualität ist ein entscheidender Faktor, wie Barbara Schmücking anmerkt: „Wenn die Vorgaben der PpUGV nicht eingehalten werden, die Daten unvollständig sind oder gar nicht geliefert werden können, drohen empfindliche Strafen. Die Qualität und Konsistenz der Daten sind also enorm wichtig. Und dann stellt sich letztlich nur noch die Frage, ob man diese Daten mit einem enormen Arbeitsaufwand von Hand aufbereiten oder einfach mit einem Tool von Cerner ziehen möchte.“ 

Der nächste Schritt: Personalcontrolling und proaktive Planung anhand von Vergleichsdaten

Im Rückblick sind Tatjana Neitz-Kluge und Barbara Schmücking sehr froh, den Schritt gegangen zu sein, zusammen mit Cerner das PpUGV-Tool zu entwickeln. „Natürlich kann man immer etwas besser machen: Die Dokumentation hinkte während des Projekts beispielsweise immer ein wenig hinterher, was in Hinblick auf das notwendige Customizing nicht optimal war. Aber man darf nicht vergessen, dass aufgrund des hohen Zeitdrucks die Entwicklung, die Dokumentation und die Implementierung schon fast parallel erfolgen mussten. Mit etwas mehr Zeit hätte das besser funktioniert“, so Tatjana Neitz-Kluge. Letztendlich zählt für sie, wie auch für ihre Kollegin aus der GeNo allerdings der unbestreitbare Erfolg: „Abgesehen davon, dass wir unsere Daten fristgerecht in hoher Qualität liefern konnten und zukünftig auch einfach generieren können, haben wir deutlich mehr Transparenz in Hinblick auf unsere Pflegeschlüssel gewonnen. Dadurch können wir unsere Personalplanung verbessern und mittelfristig auch ein Personalcontrolling einführen, mit dem wir proaktiv flexibler planen können. Das ist insbesondere dann wichtig, wenn kurzfristig größere Personalausfälle – zum Beispiel im Rahmen einer Krankheitswelle – zu kompensieren sind.“

Dementsprechend läuft bereits die Entwicklung der nächsten Ausbaustufe: Ein Dashboard soll nicht nur für mehr Klarheit über die IST-Situation sorgen, sondern unter Berücksichtigung von Vergleichs- und Erfahrungswerten auch Personalcontrolling und sogar Forecast-Modelle ermöglichen. „So können wir zum Beispiel anhand der Daten aus Vergleichsmonaten proaktiv unser Personal planen, indem wir mögliche Spitzen erkennen und abfangen“, erläutert Barbara Schmücking. Das erleichtert nicht nur den Personalverantwortlichen in der Klinik das Leben, sondern ist auch im Sinne der Pflegekräfte, die so gezielter eingesetzt werden können, was dazu beiträgt, unnötige Belastungen zu vermeiden. Vor allem profitiert allerdings der einzelne Patient davon. War die PpUGV vor allem gut gemeint, ist sie durch die enge Zusammenarbeit der MHH, der GeNo und Cerner jetzt auch gut gemacht.


 Fotos: Kerstin Haase, MHH und GeNo