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von Cerner Corporation
veröffentlicht am 10.05.2022

Die Telematikinfrastruktur (TI) als zentrale Plattform für digitale Gesundheitsleistungen bildet die Grundlage für eine umfassende Digitalisierung des deutschen Gesundheitswesens. Die TI soll alle Beteiligten im Gesundheitswesen miteinander vernetzen und eine schnelle und sichere Kommunikation zwischen Ärzten, Psychotherapeuten, Krankenhäusern und weiteren Versorgern ermöglichen. Wie ist der aktuelle Stand zur TI und woran hakt es (noch)? Dazu haben wir mit dem TI-Experten Matthias Volkenand, Cerner Solution Lead Regulatory & Analytics, gesprochen.

Matthias, wenn deutsche Gesundheitsdienstleister den Begriff Telematikinfrastruktur hören, winken nicht wenige von ihnen müde lächelnd ab. Woran liegt das?

Matthias Volkenand: Vermutlich liegt es daran, dass einige Anwendungen der Telematikinfrastruktur einfach noch nicht „ready for prime time“ sind, wie es der amtierende Gesundheitsminister ausgedrückt hat. Tatsächlich hat man erst sehr spät erkannt, dass Digitalisierung nicht bedeutet, Papier 1:1 abzubilden. Der hohe Zeitdruck und politisch motivierter Aktionismus haben dem Gesamtprozess in der Vergangenheit außerdem nicht gutgetan. Es hat in vielen Fällen dazu geführt, dass zwar eilig am Reißbrett entworfene Komponenten für die TI entstanden, diese aber noch nicht tauglich für den Massenbetrieb sind.

Hast du dazu ein konkretes Beispiel?

Matthias Volkenand: Wir sehen in unseren zahlreichen Einführungsprojekten, dass es beim Blick auf den Gesamtprozess weniger an den Primärsystemen hakt, sondern an der Komplexität der TI insgesamt. Beispiel elektronische Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung eAU: Die eAU durch das KIS im Hintergrund als XML-Datei zu generieren und versandbereit zu machen, ist die eine Sache. Sie aber erfolgreich zu versenden und sicherzustellen, dass diese auch beim Empfänger, also der Krankenkasse, ankommt, ist eine andere Sache. Hier sind eine Vielzahl weiterer Komponenten beteiligt: Konnektor, Verzeichnisdienst, KIM-Clientmodul, Signaturprüfungskomponente, KIM Fachdienst, TI-Basisconsumer der Krankenkasse. Das Zusammenspiel dieser Vielzahl an Komponenten unterschiedlicher Hersteller muss sich erst einmal ,einruckelnʻ. Auch bei der elektronischen Patientenakte (ePA) hakt es, hier insbesondere an der Performance zentraler Komponenten in der TI. Der Abruf von Informationen über das Aktenkonto des/der Patient*in oder der Abruf einer Aufstellung der darin enthaltenen Dokumentenlisten dauert einfach zu lange. Bei der ePA kommt noch hinzu, dass das Potenzial, das die ePA für den Versorgungsalltag bringt, nicht ausreichend kommuniziert wird. Die Krankenkassen haben ihre Mitglieder zwar informiert, aber mal ehrlich: Hast du deine ePA schon aktiviert und bereits Dokumente eingestellt?

Das Bundesgesundheitsministerium hat nun mit der Anpassung von Umsetzungsfristen ‒ beispielsweise beim eRezept ‒ darauf reagiert: Das kommt den Forderungen, insbesondere der Ärzte, entgegen.

Was kannst du von Herstellerseite berichten?

Matthias Volkenand: Als Hersteller sind wir gut ins Jahr 2022 gestartet und freuen uns sehr, dass wir aktiv daran mitarbeiten können, den Gesamtprozess der TI zu einer höheren Reife zu bringen. Mit der Freigabe der TI-Fachanwendungen ePA, NFDM (Notfalldatenmanagement), eAU, eMP (elektronischer Medikationsplan) und eRezept haben wir im letzten Jahr den Grundstein für die nächsten TI-Anwendungen in unserem KIS i.s.h.med gelegt. Derzeit laufen unsere Einführungsprojekte auf Hochtouren. Mit unseren Kunden sind wir auch am eRezept-Test der gematik beteiligt, darunter das Sana Klinikum Lichtenberg, wo vor einigen Wochen das erste elektronische Entlassrezept erfolgreich ausgestellt und eingelöst wurde.
2022 erwartet unsere Kunden im Rahmen der TI die Einführung der ePA 2.0 mit den ersten MIOs, wie z. B. der digitale Impfpass, sowie weitere KIM-basierte Anwendungen, darunter der eArztbrief und die eNachrichten. Des Weiteren werden sukzessive weitere Verfahren auf KIM umgestellt, z. B. die elektronische Datenübertragung mit den Unfallversicherungen DALE-UV und die KV-Abrechnung. Für zahlreiche weitere Austauschformate plant der Gesetzgeber die Integration in die TI, so z. B. das Implantatregister, das wahrscheinlich 2023 an den Start gehen wird. Außerdem gibt es von uns kontinuierlich Updates für die eAU und das eRezept – zuletzt z. B. zur Komfortsignatur. Über alle diese Inhalte informieren wir unsere Kunden zeitnah, z. B. in Form unserer TI-Webinare, auf unserem TI-Informationsportal und durch unseren Kundennewsletter.

Warum ist die Einführung der TI so zeit- und ressourcenintensiv?

Matthias Volkenand: Das fängt schon mit der Hardware an. Insbesondere für große Krankenhäuser und Verbünde ist das eine Mammutaufgabe: Test- und Produktivsysteme müssen mit den nötigen Softwarekomponenten ausgestattet werden, Hunderte von Arbeitsplätzen an die TI angeschlossen und ggfs. mit Kartenterminals ausgestattet werden, Ambulanzen und MVZ in das Informationsmodell integriert werden. Und der HBA (Heilberufsausweis) muss ausgerollt werden: Manche Kliniken beschäftigen 1.000 oder mehr Ärztinnen und Ärzte. Diese müssen mit einem für die Signatur freigegebenen HBA ausgestattet werden. Auch hierfür ist angesichts kontinuierlicher Fluktuation ein Prozess zu etablieren.

Die TI hat außerdem Auswirkungen auf die Prozesse: Das fängt bei der Aufnahme an, wo sichergestellt werden sollte, dass der Patient das Krankenhaus für den Zugriff auf die ePA berechtigt oder Notfalldaten und Medikationspläne von seiner Gesundheitskarte eingelesen werden können. Auch im Entlassprozess ergeben sich Veränderungen und das nicht nur im administrativen Bereich: Der elektronische Versand klappt noch nicht immer reibungslos und muss überwacht werden, ggfs. muss nachgearbeitet werden. Die Dokumentfreigabe und die digitale Signatur müssen auch erst im klinischen Alltag gelebt werden. Bei der Etablierung der Komfortsignatur sowie vielen weiteren der oben genannten TI-Anwendungen unterstützen wir als Hersteller die Krankenhäuser nach Kräften. Um beim konkreten Beispiel zu bleiben: Damit ein Arzt ohne PIN-Eingabe den Tag über signieren kann, kann er morgens eine Komfortsignatur zu Arbeitsbeginn initiieren und der HBA kann dann für den Tag in einer sog. „sicheren Umgebung“ verbleiben. Entsprechend sind dafür die Arztzimmer auszustatten und an die TI anzubinden. Ein anderes Beispiel: Die Direktzuweisung des eRezepts an die Krankenhausapotheke (z. B. für Zytostatika) hat erhebliche Auswirkungen – die Kommunikation zwischen Arzt und Apotheke wird hier ja quasi erst einmal auf den Kopf gestellt. All das sind ganz reale Herausforderungen und für alle diese genannten Beispiele gilt es Lösungen zu finden.

Wie geht es nun weiter mit der TI und den regulatorischen Vorgaben für Hersteller und Gesundheitsdienstleister?

Matthias Volkenand: Bundesgesundheitsminister Lauterbach hat eine Neubewertung der Digitalisierungstrategie angekündigt, dies wird sicherlich Auswirkungen auch auf die TI Roadmap haben. Hier benötigen wir – und natürlich auch unsere Kunden ‒ schnell Klarheit. Dies betrifft auch den Weg in die TI 2.0, die deutlich weniger hardwarelastig sein wird.
Zu den aktuellen Herausforderungen: Wir sehen es ähnlich wie die Kassenärztliche Bundesvereinigung KBV: Ausführliche Testphasen sind notwendig, damit sichergestellt ist, dass der Gesamtprozess effizient durchlaufen wird – vom Erstellen der Dokumente über das Einstellen in die TI bzw. den Versand per TI bis hin zum Empfang, dem Quittieren und Abrechnen. Der Einführungsprozess ließe sich insgesamt beschleunigen, wenn es bessere und realitätsnähere Testmöglichkeiten gäbe. Wir als Hersteller beteiligen uns aktiv an diesen Tests und arbeiten über diverse Kanäle und Formate mit den einzelnen Institutionen wie der gematik und der KBV zusammen.

Diese Vernetzung ist die Grundlage für eine umfassende digitale Gesundheitsversorgung, wie wir sie uns alle wünschen ‒ die Ärzteschaft ebenso wie die Patient*innen, Kliniken ebenso wie alle weiteren, an der Versorgung ihrer Patient*innen beteiligten Expert*innen. Wenn es nun gelingt, die (politischen) Rahmenbedingungen so klug anzupassen, dass sie der TI die nötige Reife geben, dann sind wir „ready for prime time“!

Die Telematikinfrastruktur und ihre Bedeutung

Die TI als Datenautobahn für das Gesundheitswesen schafft die Voraussetzungen, um Patientendaten sicher und schnell zu übertragen. So können sich Ärztinnen und Ärzte ein Gesamtbild von der Krankenhistorie ihrer Patient:innen machen und fundierte Entscheidungen treffen. Fehldiagnosen und Doppeluntersuchungen werden reduziert und die Arzneimitteltherapiesicherheit erhöht sich.

Interview/Text: Katharina Zeutschner, textwerker24